„Das neue Siedler erscheint am Freitag. Eine Ubisoft-Quelle sagte mir, dass das Projekt in fast 10 Jahren Entwicklung um die 50 Millionen gefressen hat und alle Beteiligten wüssten, dass man über 60er-Wertungen froh sein könne“ …
…so schrieb es am 11. Februar 2023 Jochen Gebauer, Ex-Chefredakteur der GameStar und heute Gründer des Podcast-Imperiums Auf ein Bier. Der Kollege gilt als vertrauenswürdig, umso mehr dürften solche Enthüllungen bei Ubisoft gerade ins Mark treffen: Zum einen ist Ubisoft ein sehr Qualitäts- und Image-bewusstes Unternehmen, so eine 60er-Wertung tut weh.
Und dann ist da noch der Aktienkurs, der sich binnen eines Jahres mehr als halbiert hat – von 47 Euro pro Aktie auf 20,12 Euro aktuell. Nach diversen Free2Play-Flops und teuren Verschiebungen (Avatar: Frontiers of Pandora, Skull & Bones, Beyond Good & Evil 2, The Star Wars Game von Massive Entertainment), braucht Ubisoft einen großen Erfolg.

Volker Wertich hatte eine ganz andere Vision. Er zeigte uns 2019 das System der Warenstände: Siedler sollten hier Beeren, unterschiedliche Fisch- und Fleischsorten, Brot etc. einkaufen, um damit durch Kräuter verfeinerte Gerichte zuzubereiten. Nur wer gut isst, kann gut arbeiten.
IDG
Ist das neue Siedler ein finanzieller Flop?
Diese kolportierten 50 Millionen Euro für Die Siedler: Neue Allianzen sind extrem viel Geld für ein Strategiespiel. Das ist ein Drittel eines Assassin’s Creed Odyssey, welches 10 Millionen Einheiten verkauft hat – sprich mindestens 700 Millionen Euro Umsatz gemacht hat. Abziehen muss man Royalties für Xbox und Playstation, die ja einen kleinen Prozentsatz erhalten, weil sie die Plattformen zur Verfügung stellen und bei sich bewerben. Hinzufügen muss man den Verkauf kosmetischer Inhalte, die laufen insbesondere bei Assassin’s Creed sehr gut. Um die 50 Millionen Euro wieder reinzukriegen, muss Die Siedler 2023 bei einem Preis von 60 Euro 850.000 Spiele verkaufen. Besser eine Million, man möchte ja zumindest ein bisschen Gewinn mitnehmen.
Volker Wertich zeigt 2019 seine neue Siedler-Vision:
Um das mal ins Verhältnis zu setzen: Anno 1800 hat in seinem ersten Jahr in etwa diese 1 Million Einheiten verkauft. Bis heute sind laut Ubisoft 2,5 Millionen Anno 1800s über den Ladentisch gegangen. Anno erzielte aber auch durch die Bank 90er-Wertungen und wurde von Anfang an von seiner Fanbase mit viel Lob überzogen. Klar, Probleme, Nickeligkeiten und Feature-Wünsche gibt es immer, aber Die Siedler: Neue Allianzen bekommt gerade nirgendwo wirklich Liebe: Wir selbst sahen uns gezwungen, trotz wirklich traumhaft schöner Grafik, liebevollen Animationen und einigen Elementen, die gut funktionieren, etwa dem Straßenbau, ob der eklatanten Mängel im Gamedesign eine 3/5-Sternen-Wertung zu geben.

Was sich alle Fragen: Hat das Siedler von Envision Entertainment, Wertichs Studio nicht funktioniert? Wäre es zu teuer geworden? Gesehen haben wir damals bereits umfangreiche Warenketten für Lederrüstungen, Kettenhemden, Plattenpanzer und sehr viele Waffentypen.
IDG
Die GameStar greift gar in die unterste Schublade, zu 55 Prozent. Das dürfte die schlechteste Wertung sein, die Ubisoft in ihrer 37-jährigen Firmengeschichte je kassiert hat. Auch auf Youtube und in ihrem eigenen Forum wird das Spiel zerrissen. Unsere Headline: „Ein sehr schönes Spiel, aber einfach kein Siedler“ bringt es auf den Punkt.
Es mangelt diesem Spiel nicht nur an sehr vielem, was ein gutes Siedler ausmacht. Sondern auch Standard-Elementen, die Aufbaustrategie einfach braucht. Es war eine eklatante Fehleinschätzung, dass „Streamlining“ im Interesse der Spieler sei. Das Studio feierte es in Videos, dass sie jedes einzelne Gebäude auf den Prüfstand gestellt haben – war es nicht zwingend notwendig, wurde es gestrichen. Aufbaustrategen wollen aber bauen – wir tüfteln auch gerne mal 20 Minuten an einer Warenkette. Es geht beim Spielen schließlich nicht um Effizienz, sondern um den Spaß.
Die Siedler: Neue Allianzen im Test
Report: Die Siedler 2023 sollte ein ganz anderes Spiel werden…
Was ist in der Entwicklung schiefgelaufen?

Ubisoft Düsseldorf liefert zwar eines der schönsten Strategiespiele überhaupt ab, was sich aber viel zu flach spielt. Viel zu reduziert. Warenketten wurden auf ein Minimum zusammengestrichen, Streamlining nannte man das.
IDG
Folgendes ist sehr wahrscheinlich: Die Siedler: Neue Allianzen hatte zu Beginn ein realistisches Budget von 15, vielleicht auch 20 Millionen Euro. Im Laufe der Entwicklung stiegen dann die Kosten auch weil das Studio wiederholt den Release des Titels verschoben hat. Aber auch dafür betreibt Ubisoft natürlich Marktforschung, die in der Regel auf Persona-Typen basiert. Man überlegt also, wer kauft die Siedler:
Persona Typ A: Mega-Fan von Die Siedler. Die Zielgruppe ist Anzahl-x-Menschen groß und wünscht sich viele Warenkreisläufe; viele Gebäudetypen; komplexe Mechaniken, die sich fein optimieren lassen. Baut auch gerne mal die ganze Nacht durch.
Persona Typ B: Mega-Fan von Anno 1800. Die Zielgruppe ist Anzahl-x-Menschen groß und wünscht sich viele Warenkreisläufe; viele Gebäudetypen, extrem tiefe Mechaniken; gigantisch große Spielwelt auf mehreren Inseln und so weiter. Sehr kaufkräftig, investiert auch gerne öfter, solange die DLCs gut sind.

Wollte Ubisoft die Age-of-Empires-Zielgruppe ansprechen? Volker Wertichs Siedler hatte zwar viel mehr Militärgebäude, etwa Festungen und für Bogenschützen begehbare Mauern, hätte sich aber nicht wie ein RTS gespielt. Wir hätten nicht einzelne Einheiten, sondern Verbände bewegt.
IDG
Persona Typ C: Hat schon mal von Die Siedler gehört, spielt aber eher Age of Empires: Kein Core-Fan, der stundenlang tüfteln möchte, aber das Bauen von Städten macht ihm Freude und Militär-Strategie ist ihm wichtig.
Persona Typ D: Genießt tolle Grafik, möchte aber nicht zu viel Tiefe. Ihm ist es wichtig, dass sich alles direkt von selbst erklärt, er möchte ungerne tüfteln, ausprobieren, potentiell scheitern.
Persona Typ E: Der Casual-Spieler, gibt sich mit Free2Play zufrieden, hat die niedrigsten Ansprüche und möchte, dass sich der Titel möglichst von selbst spielt und er nicht allzu viel agieren muss
Persona Typ GenZ: Leicht zu monetarisieren (siehe Skins in Fortnite), aber sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne. Für die Generation TikTok muss alle 30 Sekunden etwas Spannendes passieren. Die GenZ, so sagt es zumindest die Markforschung, arbeitet ungerne länger für Ziele und braucht permanente Erfolgserlebnisse. So geht das weiter. In der Regel identifiziert man 10 Personae, wie groß ihre Zielgruppen sind und wie viel Prozent dieser Zielgruppe das Spiel kaufen würden. Daraus errechnet sich der Forecast, also wie viel ein Spiel projiziert verdienen soll. Ein Forecast splittet sich in unterschiedliche Teilbereiche:
Direct Sales: Umsatz in den ersten Quartalen, was wichtig für die Quartals-Finanzplanung ist.
Year 1: Das 1. Jahr
Life-Time Sales: Umsatz aus dem gesamten Lebenszyklus des Spiels
Ubisoft ist der König der Life-Time-Sales: Sie sind extrem gut darin, Spiele sehr lange zu unterstützen – Rainbow Six: Siege, For Honor & Co. laufen schon seit sieben Jahren. Anno 1800 hatte eine zweite Blüte durch super starke DLCs wie Land der Löwen; The Division 2 erhält gerade seine 11. Season.
Volker Wertich wollte Hardcore-Aufbaustrategie machen

Die Envision Studios wollten ein klassisches Siedler abliefern. Einem, in dem es sehr viel zu tun gibt, aber auch viele Spaß-Aktivitäten: Fröhliches Betrinken in der Schenke, Feste, Gladiatorenwettkämpfe unter den Helden/Regenten der jeweiligen Städte.
IDG
Volker Wertich hatte eine Vision, die Die Siedler noch ein bisschen komplexer gemacht hätte: So sollten Bewohner von Wohnhäusern zum Markt gehen, um dort frisch einzukaufen und für die Arbeiter zu kochen. Als wir das neue Siedler 2020 auf der Gamescom spielen, gab es noch einen Stand für Beeren, Kräuter und Pilze. Am Fischstand wurden Lachs und Forelle gehandelt, an einem anderen Kaninchen, Wildschwein und Hirsche – mit wachsender Zivilisationsstufe sollte auch der Anspruch unserer Siedler wachsen, sprich, es hätte die Stärken von Die Siedler und Anno kombiniert.

Interessant: Die ganzen Grafik-Assets gibt es eigentlich noch, etwa für die Schenke. Solche „unnützen“ Gebäude hat Ubisoft Düsseldorf gestrichen. Wäre spannend, ob sie davon vielleicht etwas für Content-Updates wieder verwerten könnten?
IDG
In der Stadthalle wären wir im Zeitalter vorangeschritten, was das Aussehen der kompletten Siedlung verändert hätte. Eine der Schwächen von Die Siedler: Neue Allianzen ist, dass sich unser Dorf kaum weiterentwickelt, Architektur und Design der Häuser bleiben immer gleich, egal, wie lange wir spielen. Das drückt auf den Motivationsfaktor.
Im 2020er-Siedler waren auch sehr viel mehr Warenkreisläufe geplant, so in etwa 35 unterschiedliche Waren. Eine Mischung aus Die Siedler 1, 3 und 4 sollte es werden, kombiniert mit einem Ehrensystem –-es war etwa möglich, Bewohner andere Städte für uns zu gewinnen, wenn wir sie genug beeindrucken.

Das 2020er-Siedler hätte sich eher klassisch angefühlt. Hier sehen wir zum Beispiel, dass sich Gebäude priorisieren, aber auch upgraden lassen. Im 2023er-Siedler können wir jetzt nur noch einen Fisch für die Suppe liefern, die Jungs arbeiten dann schneller.
IDG
Noch auf der Gamescom 2019 war ein Kupfervorkommen unsere erste Anlaufstelle, um über die Kupfermine an Kupfererze zu kommen – so sollten Kupfer-Werkzeuge entstehen. Wertich wollte mehrere Werkzeugtypen etablieren, etwa auch aus Eisen und Stahl, jeweils mit eigenen langen Warenketten. Kupfermünzen sollten zudem zum Anwerben neuer Siedler dienen, quasi als Willkommensgeschenk für Neuankömmlinge, die via Schiff bei uns im Hafen eintrudeln sollten.
Sogar unterschiedliche Holzarten gab es, etwa für die verschiedenen Waffentypen – weiches, leichtes Holz für den Schaft von Schwertern und Pfeile, hartes Holz für Schilde.
Später hätten wir Silber- und Goldmünzen geprägt, was natürlich wiederum ganz eigene Warenkreisläufe bedingt, um gebildetere Siedler zu uns zu locken. Und so ging das immer weiter, jedes einzelne Element sollte sehr tief gehen. Wo ein Die Siedler: Neue Allianzen nur noch eine Waffenwerkstatt hat, die alles produziert, sollte es in Volker Wertichs Siedler die Gerberei geben für Lederrüstungen, später auch Kettenhemden und Plattenpanzer mit höherer Zivilisation. Ubisoft ging das offensichtlich zu tief, sie wollten ein Casual-Siedler, keines welches tendenziell eher mehr Spieltiefe mitbringt und einen längeren Aufbau bedingt.

Wichtig zu sagen: Wir wissen nicht, ob das Siedler von Volker Wertichs Team Spaß gemacht und funktioniert hätte. Es klingt aber eben sehr gut. Sehr nach stundenlangem Tüfteln, Nächte-langem Aufbauen. Sehr nach Siedler.
IDG
Wäre Volker Wertich’s Version die bessere gewesen?
Volker Wertichs Team hätte die Fanbases abgeholt, die Die Siedler, aber auch Anno lieben. Es wäre aber sehr teuer geworden. Mehr als die 50 Millionen, als es letztlich gekostet hat? Schwer zu sagen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit konnte Ubisoft Düsseldorf das bessere Kosten-Nutzen-Verhältnis anbieten, auch wenn sich Ubisoft ob des negativen Feedbacks schwertun dürfte, hohe Verkaufszahlen zu erziehen.

Ganz neu und durchaus spannend: Im Kolosseum, einer prunkvollen Arena hätten wir als Regent andere Herrscher zum Duell herausgefordert. Gewinnen wir, übernehmen wir sein komplettes Volk, inklusive Dorf und allen Ressourcen-Abbaugebieten.
IDG
Wie stehen die Chancen, dass Ubisoft Düsseldorf sein Siedler jetzt noch mit massiven Content-Updates auf ein komplett anderes Level bringt?
Schwierig, ehrlich gesagt. Machbar ist vieles, sie müssten allerdings sowohl den Aufbaupart sehr stark erweitern, gerade um deutlich komplexere Warenketten, als auch den Militärteil. Dafür wird Ubisoft vermutlich nicht mehr die finanzielle Kraft haben. Die Franzosen haben bereits viel mehr investiert, als sie sicherlich geplant hatten und hier reden wir leider nicht von einem Spiel, bei dem man zwei, drei Features feinschleifen muss, sondern sehr viele Einzelteile, die für sich gesehen zwar spielerisch funktional sind, aber wenig Spaß machen.

Warum sind wir skeptisch, was große, Spiel-verändernde Content-Updates angeht? Ubisoft Düsseldorf hatte ein komplettes Extrajahr mehr Zeit nach dem eher negativen Beta-Feedback. Hätten sie Assets und Teile des 2020er Siedlers nutzen wollen, hätten sie das bereits getan.
IDG
Volker Wertich wird aber immerhin sehr, sehr viele Elemente seiner Siedler-Vision in einem eigenen Spiel verwirklichen – Pioneers of Patagonia, welches wir auch bald hier auf PC WELT vorstellen werden. Darauf dürfen sich Aufbaustrategen wirklich freuen: