Atemlos hetzen wir in diese Fabrikhalle: Die Wände sind von Kugeln durchlöchert, durch das Dach tropft der Regen, doch in Stalker 2: Heart of Chernobyl kann der Regen manchmal unser Freund sein. Die Soldaten, die hier patrouillieren, hören uns nicht direkt. Sie rauchen, unterhalten sich, einer lässt nachlässig seine AK47 am Türrahmen stehen. Unsere Munition ist leer, reicht das Messer? Nicht gegen drei schwer bewaffnete Einheiten mit Kevlar-Westen, die noch dazu einen Scharfschützen auf dem Geländer platziert haben. Also zugegriffen, die AK geschnappt, einen Schalldämpfer hatten wir schon vorher im Rucksack – aufgeschraubt, den ersten niedergestreckt. Der zweite kommt gerade durch die Tür, auch er erleidet einen Kopfschuss.

Der Dritte schreit Alarm, „Dawai, Dawai“ schreit der russische Kommandant und seine Soldaten ballern aus allen Rohren. Der Holzschrank tut es nicht lange als Deckung, Stahl muss her, nur in Bewegung bleiben. Stalker 2 ist schnell, fordert flottes Denken, die Action geschieht aus der Bewegung und alles fühlt sich ziemlich authentisch an. Wenn der Scharfschütze mit seinem Rotpunktvisier auf hohe Distanz auf uns feuert, ist er via Kimme und Korn schwer zu treffen – zu sehr verwackelt die Waffe, zu stark ist der Rückstoß der AK, zu schwer ist es den Körper in dieser dunklen Halle auszumachen. Während um uns Kugeln pfeifen und Granaten explodieren, die etwa Holzstühle in tausend Teile zerreißen.

Die Lösung: raus aus der Deckung, in Richtung Waffenschrank, Rotpunktvisier anschrauben – anlegen, hoffen. Der Feind ist dabei aggressiv, wirft Granaten, zerreißt dabei die Treppe, unter der wir gerade noch Schutz gesucht haben. Es ist dunkel. Es ist chaotisch. Es ist schwierig, die anderen anzuvisieren. Es ist ein Gefühl, wie wir es eher aus einem Escape from Tarkov kennen. Es geht stark darum, sich zu orientieren, zu schauen, wo noch eine Granate rumliegen könnte, denn anders ist das Maschinengewehr-Nest nicht zu knacken. Wo ein funktionabler Schalldämpfer, damit wir selbst entscheiden können, gegen wen wir kämpfen und nicht gleich die ganze Basis alarmieren, denn ungedämpfte Schüsse hallen laut in diesen alten Fabrikgemäuern.

Stalker 2 wechselt dabei gerne auf der atmosphärischen Ebene, denn es ist eine wirklich große Open-World: Millitärbasen, Bunker, in denen nur eine rote Alarmleuchte ein kleines bisschen Licht ins Dunkel bringt. Und auch immer nur so lange, wie sie braucht, um ihren roten Lichtkreis zu rotieren. Alte Schuppen, Fabrikhallen, aber auch komplett eingerichtete Wohnhäuser, die uns das Gefühl geben, das hier Menschen gelebt haben – Familien mit Kindern und ihren Stofftieren. Räume, die jetzt Überlebenden Schutz bieten, weil es schon lange keine Heizung mehr gibt, wird Essen über dem offenen Feuer in der Wohnung gekocht. Das gefällt, weil es zeigt, was den Entwicklern wichtig ist: Ja, die Welt ist groß, aber sie ist auch belebt, jeder einzelne Raum per Hand designt, jedes Haus erzählt seine eigene kleine Geschichte. Es gibt in Stalker 2 aber auch Labore, die aussehen wie in Alien: Dark Descent: Mit atomar grün leuchtender Masse in Behältern, die dem Raum einen ganz besonderen Horror-Vibe geben. Mit Geräuschen, die uns Angst machen. Und Gegnern, die unser Herz hörbar lauter schlagen lassen.
Stalker 2 ist gut darin, uns Angst zu machen und in Ungewissheit zu baden. Und sieht verdammt gut aus dabei

Es gibt Shooter, in denen sind wir der Held, der Jäger. In Stalker 2 sind wir meist der Gejagte: Burer sind aus Lab X-18 entflohen, wo der militärische Geheimdienst Telekinese-Experimente mit Gefangenen durchführte. Es sind Mutanten, die man auf den ersten Blick nicht als solche erkennt. Sie tragen meist Regenmäntel und schlurfen durch die Gegend. Ihr Angriff hat jedoch die Wucht einer Shotgun; sie können uns regelrecht nach hinten katapultieren. 64 Quadratkilometer Todeszone warten in GSCs erster Hightech-Open-World, die auf Basis von Unreal Engine 5 richtig, richtig atmosphärisch aussieht. Es gibt viele Details: alte Radio-Anlagen, alte Funk-Anlagen, Tanks mit grünlich-gelb schimmerndem etwas darin. Die Art, wie GSC Game World dieses kurze Aufblitzen der Waffe nutzt – nur dann wird der Bereich vor uns erhellt, sehen wir eine Blutspur, die zu einem Menschen führt.

Mutanten greifen hier jederzeit an, sie spawnen einfach vor uns, beißen zu, sind wieder weg. Stehen uns plötzlich im Rücken. Es ist die etwas subtilere Art Angst zu verbreiten. Mehr mit einer Mischung aus Sound, Effekten, Grafikelementen und diesen Überraschungsmomenten statt der Holzhammer-Methode. Dieser Horror-Effekt funktioniert auf vielen Ebenen in dieser Open-World: etwa bei einem Riesenrad, das ganz offensichtlich von einer Anomalie umspielt und von dessen Energie angetrieben wird. Es sieht so aus, als hätten darin schon Jahrzehnte kein Passagier mehr gesessen, außer vielleicht ein Mutant, der sich dort schon seit Jahren im Kreis dreht, weil er nicht mehr rauskommt. Es passiert viel Merkwürdiges – Anomalien tauchen auf und zerquetschen Autos, so von jetzt auf gleich. Oder eine Art Headcrab, die ukrainischen Entwicker sind offensichtlich Fans von Valve, und wenn die schon zu faul sind, Half-Life 3 zu entwickeln, muss eben GSC Game World liefern.

Und das tun sie, Holy Shit – was für ein Spiel. Es gibt Momente, in denen blutrote Stürme aufziehen und einfach mal einen Baum in ein Haus krachen lassen, durch das wir gerade laufen. Es gibt Szenen, da hetzen wir mit nur noch einer Kugel in der Schrotflinte über Bahnschienen, verfolgt von einem Rudel mutierter Wölfe, deren Eingeweide hart geworden sind, wie Kevlar. Einfach abschießen ist nicht, hilft da ein Warnschuss? Wohl kaum. Rechts über den Zaun klettern? Verdammt, der ist voller Stacheldraht, das geht nie gut. Aber welche Wahl hat ein Stalker schon in dieser tödlichen Welt…

Erstes Fazit Stalker 2 von Benjamin Kratsch
Stalker 2 ist eines dieser Spiele, über das wir uns noch lange Geschichten erzählen werden. Weil es ein großes Spiel wird, eines das wunderschön ist, unglaublich atmosphärisch und viele Ideen aus dem Survival-Genre adaptiert – wir müssen essen, trinken, Schlafentzug lässt unsere Hand wackeln. Aber auch, weil GSC Game World gerade Übermenschliches leistet. Es ist schwierig, Spiele zu entwickeln, wenn gerade Freunde im Kampf getötet und die Familie in Gefahr ist, denn in der Ukraine tobt ein Krieg, der jeden Tag seine Opfer fordert. Es ist schwer sich vorzustellen, wie Narrative Designer Maksym Hnatkov in Gefechtspausen in seinem Schützengraben sitzt und Geschichtspassagen in seinen Laptop tippt. Nur um danach wieder das reale MG zu schultern, um einen realen Krieg zu führen. Vielleicht fühlt sich auch deshalb Stalker 2 so nahbar an, denn auch andere große Werke der Weltliteratur wurden im oder direkt nach dem Krieg geschrieben – J.R.R. Tolkien verarbeitete mit Der Herr der Ringe seine Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg. Unsere Gedanken sind bei diesen Menschen…
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