Am Rande von Night City liegen die Badlands. Diese weite Fläche unfruchtbarer Wüste, Joshua-Bäume und niedriger, abfallender Hügel in Cyberpunk 2077 ist übersät mit ausgetrockneten Ölfeldern, Schrotthaufen und rauen, isolierten Städten. Alte asphaltierte Straßen, die vor langer, langer Zeit gebaut wurde – einer besseren Zeit, bevor die Welt gen Apokalypse steuerte. Und weit in der Ferne können wir durch den staubigen Dunst fast die monolithischen Wolkenkratzer und holografischen Werbetafeln der Stadt sehen. Aber das kommt später. Im Moment stecken wir noch hier, irgendwo im Nirgendwo. Im No Man’s Land.

©CD Projekt RED
Cyberpunk 2077 bietet drei verschiedene Lebenswege, die nicht nur unseren Startbereich, sondern auch unsere Beziehung zur Welt bestimmen – unseren sozialen Status. Wir könnten auch als Corporate starten, als Part einer elitären Familie, in einem durchgestylten Luxus-Loft in einem gigantischen Glas-Wolkenkratzer, der aussieht, als wäre er von Apple-Designern gebaut worden. Nomads sind anders: Ein bisschen schmuddeliger, wir wachen in einer schmuddeligen Garage auf, starren in einen schmutzigen Spiegel, sitzend in einem Auto aus der Zukunft, das aussieht wie ein Vintage-Rallye-Hatchback, den man auf der Paris Dakar fahren würde. Und Holy Shit, sieht das gut aus: unglaublich scharfe Texturen, unglaublich viele Details – wir reden hier von einem Cockpit in der Renderqualität eines Forza Motorsport 8, mit Gearbox, unzähligen Hebeln und Schaltern, um Spezialfunktionen zu aktivieren.
Wir schwingen den Schraubenschlüssel, öffnen die Motorhaube, tauschen ein paar Drähte aus. Klettern auf den Fahrersitz, starten den Motor – das Baby schnurrt. „Hell yeah – you are awesome“, würde Keanu Reeves jetzt sagen, aber seine Figur Johnny Silverhand lernen wir erst später kennen. Stattdessen tritt ein eher mürrisch gelaunter Sheriff auf: „Hey Kid, weißt du nicht, dass es in dieser Stadt üblich ist, seinem Sheriff zu sagen, was einen hier hergebracht hat? Vielleicht sogar bei einer Tasse Kaffe“, beginnt er im leicht verächtlichen Tonfall. Nur Sekunden später beginnt der gute Mann mit der stylischen Ray-Ban-Sonnenbrille aber bereits, uns wüst zu beschimpfen. Der Sheriff grillt uns, wir können höflich bleiben oder rotzig antworten, aber wieder fällt auf: Wow, sieht das gut aus . Man kann förmlich die Nähte des Cowboy-Huts zählen, am Band dessen befindet sich eine Kamera – wie eine Mini-Go-Pro, die uns aufmerksam begutachtet Es wirkt wie die Body-Cam des Wilden Westens der Badlands. „Du bist ein Ausgestoßener unter den Ausgestoßenen”, sagt er spuckend. Wir könnten ihn jetzt als Handlanger der Corporations entlarven – „Jeder hier weiß doch, dass die Konzerne dich bezahlen und an der Leine halten wie einen räudigen Hund.“
Eine Welt der Unhöflichkeit, in der Menschen auch einfach nur pissed sein dürfen

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Für einen solchen Spruch würde man einen Schuss aus dem Revolver erwarten, der Sheriff schwafelt aber nur etwas davon, dass die Corporations für Recht und Ordnung sorgen würde. Er zieht von dannen. Die Leute in Cyberpunk 2077 scheinen nicht so trigger-happy zu sein, wie man das bisher dachte. Das Garagentor klappt auf, und wir fahren raus in die Stadt: Ein schmaler Streifen baufälliger Gebäude, umgeben von einem Ozean aus Sand. Es gibt eine Tankstelle, ein Diner, ein paar Anhänger, die unordentlich an verbogenen Strommasten angeschlossen sind, und rostige, nachgerüstete Autos, die am Straßenrand geparkt sind. Wir drücken aufs Gaspedal und rasen in die Wüste, um ein Gefühl für das Fahrverhalten des Fahrzeugs zu bekommen. Das Baby hat eine starke Federung, eine richtige Rennsemmel und Driftsau. Wer Lust hat, kann sich hier in der Wüste austoben – über schrubbelige Hügel fliegen, im Sand Powerdrifts ziehen, alles drin, alles dran. Es ist eben eine verdammt liebevoll ausgearbeitete Welt.
Doch genug des Sightseeings, es gibt immer einen Job zu erledigen: V, also die Protagonistin der Protagonist, je nach Geschmacksrichtung, soll ein Paket nach Night City schmuggeln. Wir klettern auf einen Funkturm mit Blick auf die Stadt und schauen über die Wüste auf die unverwechselbare Silhouette der Skyline Night Citys, die in der Hitze sanft flimmert. Über ein rauschendes Walky-Talky sagt der Fixer Willie, wo sich das Paket befindet. Keinen Plan, was drin ist, wir sind ja nur der Laufbursche und sollen das gute Stück bei einem Typen namens Jackie Welles abholen, der sich in einem nahegelegenen Wohnwagen versteckt. Wir lernen den schrägen Vogel kennen, freunden uns an, es wird Zeit für den ersten Abstecher nach Night City. In die Badlands können wir jederzeit zurückkehren, sollte es uns nach Drifts in der Wüste dürsten. Aber die Story setzt erst wieder nach sechs Monaten ein. Vee und Jackie sind mittlerweile Best-Buddies oder Ride-or-Die-Bitches, wie es eine adrette Dame in einer der Etablissements bezeichnet. Und natürlich gibt es wieder einen neuen Job: Ein Kunde wurde von Scavengern entführt. Fiese Vögel, die Körper aufschlitzen, um die Implantate auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen – denn in der Welt von Cyberpunk gilt es als verdammt schick, augmentiert zu werden. Hat ja auch seine Vorteile, wie in The Matrix lassen sich via Chipupgrade Intelligenz, Kraft oder Hacking-Fähigkeiten beliebig erweitern. Watson: Tokios Grandess in Night City

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Die Quest führt nach Watson, quasi das Little Tokio in Night City. Asiatisch geprägt auf die Hightech-Art, aber auch hoffnungslos überbevölkert. Die Menschen leben hier in kolossalen Wolkenkratzern und Megabauten, die allerdings eher der Kategorie Plattenbau-Charme angehören und weniger luxuriös sind, dafür müsste man eher ins City Centre – mehr oder minder das Finanzzentrum der Stadt, wo die Corporation ihre Hauptquartiere haben. Aber sei’s drum, Vee lebt hier in einem Apartment. Öffnen wir die Jalousien, bekommen wir einen ersten atemberaubenden Blick auf die Stadt. Das ist schon etwas anderes für ein Girl aus den Badlands. Sehr beeindruckend. Und wird noch eine Spur beeindruckender, wenn wir mit dem Fahrstuhl nach unten fahren und eine extrem belebte Kreuzung genießen. Wir reden hier nicht von GTA 5, wo vielleicht mal zehn Leute auf den Bürgersteigen rumlaufen, sondern dem Gefühl gerade über das Ginza Boulevard zu laufen: Taxis hupen, Personen schlängeln sich in Cyberpunk-artigen Designer-Klamotten über die Straße. Das sind die Momente, in denen sich Cyberpunk 2077 öffnet und in denen wir, wie in einem GTA oder Mafia, einfach mal drauflos cruisen sowie erkunden können. Ja, Jackie nervt schon via Intercom, weil der nächste Job ansteht, aber Zeit für Sightseeing muss jetzt sein.

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Genau wie The Witcher 3 wird auch Cyberpunk ein Spiel, was man genießen sollte. Nicht hetzen, nicht von Mission zu Mission flitzen, sondern einfach mal die Atmosphäre auf sich wirken lassen:
Der japanische Einfluss zeigt sich in der Architektonik der Gebäude und auch im Style der Fashion – das ist alles grell-bunt und gewagter, als man es in Europa und den USA tragen würde. Grell-grüne Lederjacken mit Stacheln, wie sie Philipp Plein verkauft. Und allerlei Charaktere, wie sie auch auf der Tokio Fashion Show auf dem Laufsteg auftreten würden, Super-XXL-Sonnenbrillen im Prada-Style inklusive, nur eben mit eingebautem Headup-Display. Irgendeiner musste ja mal Google Glass fertig entwickeln. Recken wir die Kamera hoch, sehen wir Wolkenkratzer in den schillerndsten Farben – mit Leuchtreklamen und animierten, holografischen Werbetafeln beladen.
Das hier ist die nächste Generation von World-Building von CD Projekt RED. Sorry, Novigrad, aber gegen Night City musst du einpacken. Lieb haben wir dich trotzdem noch immer und werden The Witcher 3 auch auf jeden Fall nochmal auf der Xbox Series X spielen – es kommt ja noch ein Raytracing-Upgrade, was diesen wundervollen Rollenspiel-Diamanten noch ein bisschen mehr veredeln dürfte. Das Rotlicht-Viertel: Cyber-Sex mit Augmentierten

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Die Straße ist schmal, aber hoch, mit verwickelten Stromkabelnetzen zwischen Gebäuden, Reihen blinkender Verkaufsautomaten, die um die Aufmerksamkeit der Menschen wetteifern. Und was hier fasziniert: Die Cyberpunk-2077-Sozial-Dynamik verhält sich kontextsensitiv. Folgt Vee zu lange einer Person in diesem Rotlicht-Bezirk, dann dreht die sich um und motzt – man möchte ja in solchen Etablissements eher seine Privatsphäre zelebrieren. Generell finden die Leute es auch komisch, wenn man sie zu lange anschaut. Schauen wir in etwa zu lange auf die vergoldete, mechanische Hand eines Pimps, fährt der schon mal die Faust aus. Auch hier, wo Sex verkauft wird, ist Fashion wichtig: transparente Vinyl-Regenmäntel in Kombination mit Dessous, fluoreszierende Trainingshosen, aufwändige High-Top-Sneakers in Kombi mit knallengen in Metallic glänzenden Leggings. Es gibt hier auch gefühlt alles zu kaufen: Cyber-Sex-Toys, aber auch Full-Body-Workouts für Menschen, die eher das Bett denn Fitnessstudio bevorzugen. Dennoch: Vee pfeift hier aber nicht nach den Mädels und Jungs, sondern nach ihrem Auto. Den Quadra-Turbo-R rufen wir wie Roach, Geralts treues Ross, das im Deutschen schlicht Plötze heißt. Dieser Sportwagen fühlt sich ganz anders an als der wilde Rallye-Hatchback: Es fährt sich eher wie ein Maserati, also schon sportlich, aber nicht so gierig nach Power wie ein Ferrari.

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Auch aus der Ego-Perspektive lässt sich der Wagen steuern, dann können wir das Armaturenbrett genießen, das so dezent Richtung Michael Knights K.I.T.T. geht. Ein Druck auf die Kartentaste, zeigt ein 3D-Drahtgittermodell von Night City, was sich beliebig drehen lässt. Gigs sind umfangreiche, geschichtengetriebene Nebenmissionen. Ähnlich wie bei den lustigen, unvorhersehbaren Nebenaufgaben von The Witcher 3 können sich anscheinend einfache Jobs auflösen, weiterentwickeln und zu etwas viel Größerem und Komplexerem avancieren. Nebenjobs hingegen sind kleinere, unmittelbarere Momente, wie der Umgang mit jemandem, der sich mit Augmentationen überlastet hat und an Cyberpsychose leidet. Vee kann sich auch in die Datenbank des Night City Police Departments reinhacken, um nach gesuchten Bürgern zu fahnden und das Kopfgeld einzukassieren – eine einfache Provision für Bounty Hunter. Es gibt viel zu tun, viel zu genießen – in Watson scheint es nie wirklich dunkel zu werden, auch bei Nacht spiegeln sich überall die riesigen LED-Werbebanden und Holo-Tafeln, die die Stadt bei Nacht in ein kaltes blaues Licht verwandelt. Regnet es, spiegeln sich die Pfützen auf der Straße, wo dann Raytracing seine Sternstunde hat. Wir werden sicherlich noch viel, viel Zeit in dieser Welt verbringen, am 19. November geht es ja endlich los. Pünktlich zum Start der Xbox Series X und PS5.

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