Wir Mitteleuropäer werden immer älter und bleiben dabei keineswegs immer bis zum Schluss gesund. Aufgrund von neurologischen Erkrankungen – Schlaganfall, Multipler Sklerose, Morbus Parkinson – werden oft schon Erwachsene im mittleren Lebensalter pflegebedürftig: Einer von 100 Erwachsenen erlebt im Alter zwischen 40 und 49 Jahren einen Schlaganfall – bei den 70- bis 79-Jährigen sind es schon 7 von 100.
Der Erkrankung folgt oft eine langwierige Rehabilitation in einer Klinik oder zu Hause, mit umständlichen Besuchen beim Physiotherapeuten, verbunden mit Schmerzen, Frust über mangelnde Fortschritte und Selbstzweifel. Nicht wenige Patienten reagieren auf ihre neue Situation mit Niedergeschlagenheit und Rückzug. Das wiederum behindert den Trainingsprozess, in dem Alltagsfähigkeiten erst mühsam wieder aufgebaut werden müssen. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?
Eine mögliche Lösung, so Lucia Pannese, CEO von Imaginary , könnten Spiele sein, die einen ernsten Hintergrund haben: Serious Games. Patienten sollen mit Hilfe der Serious Games Alltagsfertigkeiten neu erlernen und körperliche (beispielsweise Armbewegungen) und kognitive Fähigkeiten (beispielsweise Gedächtnis und Aufmerksamkeit) trainieren.
Dazu soll der Patient sich nicht selbst motivieren müssen – oder sich regelmäßig vom Hausarzt Predigten über die Wichtigkeit des Besuchs beim Physiotherapeuten anhören – sondern stattdessen von der Dynamik eines Spiels mitgerissen werden. „Gamification“ heißt das Prinzip.
Gamification aktiviert das Belohnungszentrum
Ziel der Gamification ist, langweilige oder unangenehme Aufgaben durch die Anwendung von Spielprinzipien interessanter zu gestalten. Das ist nicht auf die digitale Welt begrenzt: Mülleimer an Autobahnauffahrten fordern zum Zielwurf aus dem Autofenster heraus auf. In Pissoirs werden Fliegen oder andere Objekte angebracht, die Männer mit dem Urinstrahl treffen sollen, und so sicherstellen, dass der Nutzer sich Mühe gibt, das Becken nicht zu verfehlen.
Diese analogen Beispiele illustrieren gleich einige typische Merkmale, die ein Spiel so motivierend machen: Die Resultate sind nicht – wie beim Glücksspiel – dem Zufall unterworfen, sondern hängen zumindest zum Teil von den Fähigkeiten des Spielers ab. Das heißt auch: Durch Konzentration und Übung wird der Spieler besser. Wichtig ist auch die unmittelbare Rückmeldung über Erfolg und Misserfolg, die im Erfolgsfall das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. Ein Grund, warum Spiele auch süchtig machen können.
Weitere Merkmale, die ein Spiel attraktiv erscheinen lassen: die Chance auf einen Platz in der Bestenliste der Spieler, die Illusion, an einer wichtigen übergeordneten Mission zu arbeiten, also auf einem sogenannten Quest zu sein und die Möglichkeit, mit anderen – oder gegen andere – zu spielen.
Spielerische Reha mit der Kinect
Das Potenzial von Gamification, Lerneffekte und Verhaltensänderungen im Gesundheitsbereich anzustoßen, wurde von Entwicklern schon vor Jahren erkannt. Ungezählt sind die Apps in den Stores, die versprechen, die Intelligenz des Nutzers zu trainieren oder die es Freizeitsportlern ermöglichen, online miteinander in Wettbewerb zu treten. Dass man mit solchen Apps Spaß haben kann, steht außer Frage – allein, es fehlt vielen von ihnen an wissenschaftlicher Evidenz.

©Microsoft
Gerade diese wissenschaftliche Grundlage sollte unter anderem im EU-Projekt Rehab@Home erarbeitet werden, das von 2012 bis 2015 lief und an dem auch Wissenschaftler von Imaginary mit ihrer Software beteiligt waren. Ziel war es, Patienten mit neurologischen Erkrankungen (Zustand nach Schlaganfall, Multiple Sklerose) die Rehabilitation mittels Serious Games zu Hause zu ermöglichen. Als Hardware wurde dazu eine Kinect verwendet, der 3D-Bewegungssensor von Microsoft, der schon in zahlreichen weniger „serious“ Games zum Einsatz gekommen war.
Anhand der Resultate der Rehab@Home-Studie – koordiniert von der Uni Bremen – sowie der DOREMI-Studie (zur Verbesserung kognitiver Fähigkeiten älterer Bürger durch Serious Games) ist schließlich die Spielesuite Rehability entstanden (siehe Video). Der Spieler/Patient erfüllt dabei verschiedene Aufgaben, die grob an Alltagssitutationen angelehnt sind. Vorsicht, tieffliegende Brötchen!
Größere Studien noch ausstehend
Das Potenzial von Serious Games zur Verbesserung mentaler Fähigkeiten ist in wissenschaftlichen Kreisen nicht unumstritten. Noch 2014 haben eine Reihe renommierter Neurowissenschaftler (unter anderem aus Deutschland, den Niederlanden und den USA) eine Konsensuserklärung unterzeichnet , die besagte: Spiele zur Förderung der kognitiven Fähigkeiten, sogenannte Brain Games, verhinderten bei kurzzeitiger (auch intensiver) Anwendung nicht den geistigen Abbau im Alter und könnten ihn ebenso wenig rückgängig machen. Viel wichtiger seien lebens- oder zumindest jahrelange Gewohnheiten im Sinne eines gesunden und aktiven Lebensstils.
Damals ermutigten die Wissenschaftler allerdings schon weitere Studien, die die Effektivität von Serious Games belegen sollten – sie distanzierten sich lediglich von den überzogenen Marketingversprechen einiger Brain-Games-Anbieter.
Die Entwickler von Imaginary distanzieren sich ebenfalls: Die Rehability-Suite diene in erster Linie der körperlichen Rehabilitation und der geistigen Aktivierung – die Verbesserung geistiger Fähigkeiten werde den Patienten nicht versprochen.
In der Pilotstudie im Rahmen von Rehab@Home zeigte sich, dass die Patienten die Spiele gut akzeptierten: Nur einer von 16 Patienten brach das Training vorzeitig ab. Dass anhand so weniger Patienten nicht gezeigt werden kann, ob die Spiele tatsächlich eine nachhaltige Wirkung haben, wissen auch die Entwickler: Daher laufen im Moment weitere Studien in insgesamt fünf EU-Ländern mit mehreren hundert Patienten.
Serious Games ergänzen traditionelle Physiotherapie
Und, Frau Pannese, wird nun die Kinect in Zukunft den Physiotherapeuten ersetzen? „Nein. Die Spiele sind so konstruiert, dass sie unter Anleitung und mit Unterstützung des Physiotherapeuten, Ergotherapeuten oder behandelnden Arztes benutzt werden. Außerdem – das unterscheidet uns von anderen Anbietern – soll der Therapeut das Spiel individuell an die Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes Patienten anpassen, und zwar spezifisch für den aktuellen Therapiestand.“
Ungeeignet ist die Spielesuite nach Ansicht der Imaginary-Chefin lediglich für Patienten, die fast keine Restfunktion der Arme mehr besitzen oder nach dem Schlaganfall an schweren geistigen Beeinträchtigungen leiden.
Testen kann man die Spiele von Imaginary zu Hause leider nicht – die nächste Gelegenheit, sie live auszuprobieren, besteht aber im März auf der Konferenz INNOVATION FORUM in Donaueschingen.