Wir stehen an der Schwelle zu einer medizinischen Revolution. Treiber dieser Revolution sind einerseits digitale Technologien, andererseits die Patienten: Ein Großteil der Deutschen nutzt das Internet ganz selbstverständlich, um sich über Themen wie gesunde Ernährung, Sport, Vorsorge oder Behandlungsmethoden schlau zu machen. Bei der Wahl des richtigen Arztes können wir dank des Webs auf die Erfahrungen vieler anderer Menschen zurückgreifen. Und beim Sport messen wir unsere Vitaldaten per Fitnesstracker und werten sie mithilfe von Gesundheits-Apps aus.
Mit diesen neuen Möglichkeiten einher geht eine ganz neue Rolle des Patienten: Er tritt seinem Arzt souveräner gegenüber, übernimmt mehr Verantwortung in seiner Behandlung und kann so potenziell länger gesund bleiben bzw. schneller genesen. Und das ist erst der Anfang. Digitale Technologien bieten darüber hinaus riesiges Potenzial für die Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten – wenn wir sie konsequent nutzen.
Das beste Beispiel ist wohl die Telemedizin. Telemedizinische Anwendungen können die Versorgung kranker Menschen enorm verbessern und zugleich Arzt und Patient deutlich entlasten. Beim Tele-Monitoring etwa werden Vitalwerte wie Blutdruck oder Blutzucker von Patienten mit Herzerkrankungen oder Diabetes digital an ein Krankenhaus übermittelt, wo medizinisches Fachpersonal diese prüft und den Patienten bei Unregelmäßigkeiten benachrichtigt.

©Bitkom Research 2016
Die Vorteile liegen auf der Hand: Gerade chronisch kranke Menschen müssen so nicht mehr oft lange Fahrzeiten und -wege zur Praxis oder Klinik auf sich nehmen. Sie können stattdessen länger sorgenfrei in ihrer vertrauten Umgebung leben. Der behandelnde Arzt hat auch ohne ständige Praxisbesuche oder Krankenhausaufenthalte einen lückenlosen Überblick über den Status des Patienten. Nicht zuletzt kann Tele-Monitoring auch die Kosten im Gesundheitswesen deutlich senken. Angesichts der demographischen Entwicklung ist dieser Faktor nicht zu vernachlässigen.
Und das ist nur ein Beispiel: Die Online-Sprechstunde, bei der Arzt und Patient per Video-Chat miteinander sprechen, der telemedizinische Austausch zwischen Medizinern oder telemedizinisch unterstützte Operationen werden in Zukunft gang und gäbe sein. Die technischen Möglichkeiten für diese Anwendungen sind längst da.
Und die Deutschen sind der Telemedizin gegenüber ebenfalls aufgeschlossen, wie eine Befragung im Auftrag des Bitkom zeigt: So sind beispielsweise sechs von zehn Bundesbürgern (59 Prozent) offen gegenüber dem Tele-Monitoring, und an der Online-Sprechstunde ist jeder Dritte (33 Prozent) interessiert.
Doch von einer alltäglichen Nutzung innovativer E-Health-Anwendungen sind wir noch ein ganzes Stück weit entfernt – was vor allem daran liegt, dass das Gesundheitswesen stark reguliert ist. Das ist natürlich grundsätzlich richtig: Wenn es um Leib und Leben geht, ist Vorsicht oberstes Gebot. Zugleich aber dürfen Vorschriften nicht dazu instrumentalisiert werden, positive Veränderungen zu behindern.
Der Einwand etwa, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Online-Sprechstunde leide, wirkt mitunter vorgeschoben. Die Online-Sprechstunde wird den persönlichen Kontakt samt körperlicher Untersuchung nicht ersetzen, sondern ergänzen – und zwar dort, wo die körperliche Untersuchung nicht oder noch nicht nötig ist. Dass diese Fälle zahlreich sind, wissen sowohl Ärzte als auch Patienten aus der täglichen Praxis sehr gut.
Mit dem E-Health-Gesetz haben wir nun nach Jahren des Ringens endlich wichtige Weichen für eine Digitalisierung in der Medizin und im Gesundheitswesen und auch für die Telemedizin gestellt. Endlich werden innovative Lösungen zum Wohle der Patienten nicht mehr global verboten.
Doch am Ziel sind wir damit noch lange nicht. So soll beispielsweise die Online-Sprechstunde nach dem persönlichen Erstkontakt möglich werden. Aber nun müssen entsprechende Anreize geschaffen werden, damit Angebote flächendeckend entstehen. Und weitere Telemedizin-Angebote müssen folgen. Das Tele-Monitoring findet beispielsweise im verabschiedeten E-Health-Gesetz nicht ausreichend Berücksichtigung.
Mit dieser Zögerlichkeit laufen wir Gefahr, von der Entwicklung abgekoppelt zu werden. Was die Patienten längst ganz selbstverständlich tun – nämlich digitale Innovationen für ihre Gesundheitsversorgung zu nutzen – müssen wir auch in den Institutionen des Gesundheitswesens stärker und schneller als bisher vorantreiben. Andernfalls laufen wir Gefahr, Innovationspotenzial im eigenen Land abzuwürgen. Start-ups können sich jahrelange Kämpfe mit der Bürokratie nicht leisten und sind im Zweifel gezwungen, in Länder mit innovationsfreundlicheren Rahmenbedingungen abzuwandern. Zu viel Zögerlichkeit geht auch zu Lasten der Solidargemeinschaft, die die Rechnung für eigentlich überflüssige Untersuchungen zahlt. Und nicht zuletzt leiden die Patienten, die schon jetzt gerne von den neuen Möglichkeiten profitieren würden.