In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die Verkehrsdichte auf deutschen Straßen vervielfacht. Dennoch geht die Zahl der Verkehrsopfer kontinuierlich zurück – von rund 22.000 Toten im Jahr 1970 auf 4000 im Jahr 2011. Diese deutliche Verbesserung der Sicherheitslage dürfte nur zu einem geringen Prozentsatz auf verändertes Fahrverhalten zurückzuführen sein. Einen größeren Anteil daran haben dagegen die deutlich verbesserten Crash-Eigenschaften und die moderne Sicherheitstechnik in den Fahrzeugen. Zwischen dem Sicherheitsgurt als erstes wirksames Mittel zum Schutz der Autoinsassen beim großen Knall bis zu der tief gestaffelten Phalanx intelligenter Systeme in heutigen Autos liegt jedoch ein weiter Weg.
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Rekonstruktion des Unfallverhaltens
Was passiert also bei einem Unfall? Sehen wir uns die elektronischen Systeme in einem PKW einmal an. Unterstellen wir, dass das Fahrzeug mit allen Raffinessen der heutigen Technik bestückt ist, also auch mit der Adaptiven Geschwindigkeitsregelung (auch Abstandstempomat oder ACC genannt) – und zwar in einer Ausführung mit einem Bremsassistenten, der zudem auch die Notbremsfunktion beherrscht.
Deutsche Autofahrer leben sicherer als südamerikanische Fahrer Im Verkehrsalltag sind viele unterschiedliche Unfallsituationen denkbar. Der häufigste Fall ist der Frontalaufprall, wobei es einen Unterschied macht, in welchem Winkel der Aufprall erfolgt und wie hart der Aufprall ist. Es spielt auch eine Rolle, ob dem Aufprall ein Schleudervorgang oder gar ein Überschlag vorausgegangen ist. Eine andere Unfallsituation liegt bei einem Seitenaufprall vor, und wiederum anders liegt der Fall bei einem Heckaufprall oder bei einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger: Die Elektronik im Fahrzeug mit ihren Sensoren, Algorithmen und Aktoren muss alle diese Faktoren erfassen und verarbeiten können. In der Praxis sind daher in aller Regel je nach Unfallsituation mehrere unterschiedliche Steuergeräte an der Sensierung des Vorgangs und den daraus folgenden Aktionen beteiligt.
Notbrems-Funktion in 1 Million Volvos verbaut

©Continental AG
ACC im Unfall-freien Normalbereich
Im Normalzustand, bei der Fahrt durch die Stadt ebenso wie auf der Landstraße oder auf der Autobahn, sind alle Systeme im grünen Bereich. Fahrer und Beifahrer haben ihre Sicherheitsgurte angelegt, das Auto gleitet dahin. Nach vorne hin tastet der Radarstrahl gemeinsam mit der Stereokamera (die sich hinter dem inneren Rückspiegel im oberen Bereich der Windschutzscheibe befindet) die Straße ab und hält den Abstand zum Vordermann konstant – gibt dieser Gas, so beschleunigt auch der Tempomat, jedenfalls bis zu einer einstellbaren Maximalgeschwindigkeit. Bremst der Vordermann ab, so erkennt das auch der Radarsensor (der im Kühlergrill oder im Frontspoiler verbaut ist); der Fahrassistent nimmt dann erst einmal selbst das Gas weg.
ACC & Co – clevere Sicherheits-Assistenten verhindern Unfälle

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ACC tritt auf die Bremse und warnt vor Kollision
Falls das nicht reicht, so betätigt er die Bremse – zunächst eher vorsichtig, um das Komforterlebnis nicht zu trüben. Nimmt der Abstand weiter ab, so gibt die Elektronik erst einmal eine Warnung an den Fahrer aus: Zunächst leuchtet ein Licht am Armaturenbrett (oder im Head-Up-Display, sofern ein solches vorhanden ist) auf und es ertönt ein Warnton. Viel Zeit bleibt dem Fahrer dann nicht für ein eigenes Eingreifen: Bleibt er weiterhin passiv und das System stellt fest, dass sich der Abstand weiter verringert, so steigert das Assistenzsystem nach 0,5 bis 1 Sekunde die Bremswirkung so weit, wie es nötig ist, um eine Kollision zu vermeiden. Manche Systeme ziehen bereits jetzt über Elektromotoren die Gurtstraffer fest, sofern diese als reversible Gurtstraffer ausgeführt sind: Die Passagiere werden an den Sitz herangezogen, die Gurte liegen sich fester um den Körper.
Lebensgefahr durch aufplatzende Fahrbahnen
Notbremsassistent schlägt Alarm
Bei alledem berechnet das System kontinuierlich die Eigen- und die Relativgeschwindigkeit zum Vordermann oder auch zu einem stehenden Hindernis. Aus der Geschwindigkeit und der von dem Radargerät gemessenen Distanz ermittelt der Rechner den Zeitpunkt des Aufpralls. Kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass die maximale Bremsverzögerung nicht mehr ausreicht, das Fahrzeug innerhalb der noch verfügbaren Distanz zum Stehen zu bringen, so gibt der Notbremsassistent gewissermaßen Großalarm. Die Verantwortung geht jetzt an das an das Airbag-Steuergerät über – ein je nach Ausführung recht komplexes Gerät mit, entgegen seinem Namen, mehr Funktionen als nur das Zünden eines Airbags. Tatsächlich laufen auf diesem Mini-Rechner mehrere Anwendungen, die je nach Fahrzeug dem Bereich der passiven Sicherheit, der Fahrerassistenzsysteme oder der Chassis-Funktionen zuzuordnen sind.
Sicherheit macht Autos schwerer
Airbag-Controller reagiert
Der Airbag-Controller ist nahe dem Schwerpunkt des Fahrzeugs eingebaut; ein oft gewählter Platz ist im Kardantunnel etwa auf der Höhe der Vordersitze. Unter anderem enthält der Airbag-Controller einen Beschleunigungssensor, in besser ausgestatteten Fahrzeugen auch einen Drehratensensor für das Erkennen von Überschlägen. Das Airbag-Steuergerät gibt spätestens jetzt den Befehl, die Fensterscheiben hochzufahren, falls sie geöffnet sind. Denn geschlossene Fenster geben der Fahrgastzelle eine höhere Verwindungssteifigkeit. War das Fahrzeug vor dem Aufprall ins Schleudern gekommen, so hatte die Fahrdynamikregelung das registriert und schon beim beginnenden Überschlag die Fenster und das Schiebedach geschlossen.

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Sensoren liefern Unfalldaten
Das Airbag-Steuergerät hat ständig einen Überblick darüber, welche Sitze in dem Fahrzeug belegt sind und ob da ein Kindersitz montiert ist. Zudem weiß es über die Kontaktschalter in den Gurtschlössern, wer den Gurt angelegt hat und wer nicht. Neben den für die Crash-Erkennung wichtigsten Beschleunigungssensoren bezieht das Steuergerät Daten von einer Vielzahl weiterer Sensoren. So sind in den Fahrzeugtüren Drucksensoren installiert, die einen Seitenaufprall melden. Weitere Beschleunigungssensoren in der Crashzone melden, wo der Aufprall zuerst erfolgt ist. Manche Fahrzeuge neuerer Bauart sind mit einem Körperschall-Sensor ausgestattet – einer Art Mikrofon, das bei einem Aufprall die Verformungsgeräusche in der Crashzone “abhört” und Rückschlüsse über Art und Schwere des Unfalls zulässt.

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Unfalldaten werden rasend schnell ausgewertet
Hat nun der Beschleunigungssensor den beginnenden Crash gemeldet, so erfolgt eine kurze Phase des Rechnens. Das Airbag-Steuergerät wertet dazu viele Daten aus, die auf dem Datenbus liegen – etwa Lenkwinkel, Drehgeschwindigkeit um die Hoch- und Längsachse, Federungseinstellung, Standstill-Informationen oder Fahrzeug-Eigengeschwindigkeit. Aus diesen Daten ermittelt das Airbag-Steuergerät blitzschnell einen Plan für das weitere Vorgehen: Ist eine Aktivierung der Airbags überhaupt erforderlich? Bei Geschwindigkeiten unter ca. 25 km/h reicht in der Regel der Gurt aus. Liegt die Geschwindigkeit höher, so werden jetzt pyrotechnische Gurtstraffer aktiviert und die Airbags gezündet. Dieses Aktion findet innerhalb von typischerweise innerhalb von 15 Millisekunden statt. Je nach Ausführung des Fahrzeugs können die Airbags differenziert gezündet werden. Damit trägt der Airbag-Controller Faktoren wie Gewicht des Insassen und Sitzposition Rechnung. Handelt es sich um einen Heckaufprall, so werden jetzt auch eventuell vorhandene aktive Kopfstützen aktiviert – je nach Modell kann es sich dabei um eine elektromotorische oder pyrotechnische Aktivierung handeln.
Notruf-System ab 2015 für alle Neuwagen Pflicht
Türen werden entriegelt
Das ist noch nicht alles. Das Airbag-Steuergerät gibt gleich zu Beginn des Crashs eine Anweisung an den Body-Controller, die Türen zu entriegeln, damit die Insassen leichter aussteigen können – oder sich die Rettungskräfte gegebenenfalls leichter Zugang zum Innenraum verschaffen können. Bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen wird jetzt auch die Hochvolt-Batterie abgeschaltet, um Kurzschlüsse und eine eventuelle Gefährdung des Rettungspersonals zu verhindern. Bei vielen Fahrzeugen wird die Kraftstoffpumpe abgeschaltet, um ein Ausfließen der feuergefährlichen Flüssigkeit zu unterbinden.
Mercedes-Benz-PKWs warnen sich gegenseitig
Ab 25 hm/h zündet der Airbag
Innerhalb von 30 Millisekunden nach dem Zünden entfalten sich nun die Airbags. Sie bleiben etwa 30 bis 50 Millisekunden lang prall gefüllt und entleeren sich dann wieder sehr schnell. Bereits nach einer Zehntelsekunde ist ihre Tätigkeit beendet.
Automatischer Notruf
Einige elektronische Helfer bleiben weiter aktiv. Falls als Fahrzeug nicht schon zum Stehen gekommen ist, nutzt das ESP-Steuergerät den Crash-Sensor des Airbag-Steuergeräts, um die Multikollisionsbremse zu aktivieren und das Auto vollständig zum Halten zu bringen. Und in Zukunft wird ein integriertes E-Call-Gerät über das Mobilfunknetz automatisch die Helfer benachrichtigen – es sendet mindestens einen Identifier, die GPS-Koordinaten und gegebenenfalls weitere Daten zum Unfallhergang an die Notrufzentrale.

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Passive Sicherheit: Fahrgastzelle und Knautschzonen
Nicht nur die Elektronik sorgt für den Schutz der Insassen bei einem Unfall. Konstruktive Maßnahmen im und am Fahrzeug selbst bieten heute bereits einen wesentlich größere Chance, auch einen größeren Unfall lebend und vielleicht sogar unverletzt zu überstehen, als noch vor einigen Jahren. Zu diesen Maßnahmen gehören vor allem eine formstabile Fahrgastzelle und Knautschzonen Front- und Heckbereich.
Hart: Robuste Fahrgastzelle
Die Stabilität der Fahrgastzelle wird durch eine entsprechende Formgebung der tragenden Profile und die Verwendung hochfester Borstähle erreicht. Auch ein stabiler Dachrahmen und eine Schutzwand zum Motorraum gehören zu dem Konzept. Die größte Steifigkeit erreicht die Fahrgastzelle im Bereich der Türen; hier sorgt ein Türaufprallträger für das Ableiten der Bewegungsenergie. Auch der Tank liegt im geschützten Bereich der Fahrgastzelle. Typischerweise ist er vor der Hinterachse angeordnet. Im Gegensatz zur Fahrgastzelle wird er heute nicht aus Stahl gefertigt, sondern aus hochschlagzähem Kunststoff.
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Überrollbügel für Cabrios fährt aus
Bei Cabriolets und Roadstern sichert ein Überrollbügel den Überlebensraum der Insassen. Bei den meisten heutigen Fahrzeugen ist dieser Überrollbügel im Normalfall in der Karosserie versenkt; erst bei einem Überschlag wird er durch Zündung einer pyrotechnischen Ladung in Sekundenbruchteilen aus der Karosserie herausgetrieben.
Die meisten Autofahrer sterben auf Landstraßen
Weich: Knautschzonen
Die Knautschzonen vorne und hinten haben die Aufgabe, möglichst viel Aufprallenergie aufzunehmen und die Insassen so sanft abzubremsen, wie das nach den Umständen möglich ist. Grundsätzlich gilt: Viel hilft viel – je mehr Platz für die Verformungszone zur Verfügung steht, desto mehr Aufprallenergie lässt sich von den Insassen fernhalten. Hier müssen die Konstrukteure einen Kompromiss zwischen der Größe der Knautschzone und der Kompaktheit des Autos eingehen.