Das “Wikipedia Lexikon in einem Band” (gebundene Ausgabe; Bertelsmann Lexikon Verlag/Wissen Media Verlag; 1. Auflage, September 2008) ist relativ preiswert, 19,95 Euro sind nicht viel Geld für ein Buch mit festem Einband, durchgehend farbigen Abbildungen und 992 Seiten Umfang (Amazon.de übertreibt übrigens etwas mit seiner Produktbeschreibung und nennt 1008 Seiten). Die gesamte Verarbeitung macht einen soliden Eindruck, hier konnte das Bertelsmann-Lexikon-Institut seine langjährige Erfahrung ausspielen. Doch bei einem Lexikon entscheidet nicht die äußere Aufmachung sondern der Inhalt. Und der basiert auf mitunter stark gekürzten und redaktionell überarbeiteten Wikipedia-Artikeln.
Interessant und durchaus originell ist das Auswahlkriterium für die 50.000 erfassten Stichwörter: Es handelt sich dabei um die 50.000 im Zeitraum 2007/2008 am häufigsten aufgerufenen Wikipediaartikel. Somit spiegelt das Wikipedia-Buch die jüngste Interessenslage der Internetnutzer und das aktuelle Weltgeschehen recht gut wider – ein interessantes Unterscheidungsmerkmal zu anderen gedruckten Lexika. Allerdings gilt dieses Auswahlkriterium nur bis zum 14. April 2008, denn an diesem Tag war Redaktionsschluss. Das hat zur Folge, dass beispielsweise die Stichworte zu Georgien oder Müntefering sehr knapp ausfallen – im April 2008 war der Konflikt zwischen Georgien und Russland noch nicht derart eskaliert und Franz Müntefering noch nicht in die aktive Politik zurück gekehrt, er pflegte damals noch seine todkranke Ehefrau.
Das beschriebene Auswahlkriterium sorgt für eine mitunter kuriose Stichwortsammlung: So findet man relativ viele Einträge zu aktuellen Kinofilmen wie Indiana Jones und Computerspielen wie GTA Grand Theft Auto, doch wenn man wissen will, was es mit Kalkriese, Cannae oder der Goldenen Bulle auf sich hat, stößt man auf Schweigen (Tipp: Kalkriese wird kurz unter dem Suchbegriff Varusschlacht erwähnt). Unter dem Stichwort “Hannibal” findet man drei Einträge: Ein kurzer Eintrag behandelt den berühmten karthagischen Feldherrn, der die Alpen überquerte und Rom an den Rand der Niederlage brachte. Etwas länger fällt dagegen der Artikel zu den Filmen um den Kannibalen Hannibal Lecter aus, für den es obendrein noch einen eigenen Lexikon-Eintrag gibt. Diese ungewöhnliche Auswahl lässt den Bildungsbürger erschauern, doch ist das in diesem Fall ausdrücklich gewollt und spiegelt eben die Neugier und die Wissbegierde der Internetnutzer wider (sollte das Leben des antiken Hannibal von Hollywood verfilmt werden, so dürfte sich diese Gewichtung bei Wikipedia deutlich verschieben). Der Bertelsmann-Lexikon-Verlag betont dieses Auswahlkriterium ausdrücklich und erklärt auch, wie die mitunter episch langen Wikipedia-Originalartikel für den knappen Platzvorrat eines einbändigen gedruckten Lexikons zurecht gestutzt wurden: So dienten als Textquellen die ersten Absätze der Online-Artikel, die, wie der Verlag betont, behutsam überarbeitet wurden, wenn es erforderlich war.
Allerdings ist diese angesichts des knappen Platzes unvermeidliche redaktionelle Kürzung nicht immer optimal ausgefallen. So findet man zum Beispiel zum VW Golf einen 9,5 Zeilen langen Eintrag, von denen aber in fast drei Zeilen nichts zur Geschichte und Technik dieses Automobils steht (was man eigentlich erwarten würde), sondern die stattdessen den nicht gerade zwingenden Hinweis enthalten, dass es seit dem Jahr 2004 einige Golf-Veteranen gibt, die mindestens 30 Jahre alt sind und damit als Oldtimer zugelassen werden können. Dieser Hinweis hat nicht spezifisch mit dem VW Golf zu tun und müsste dann bei vielen anderen Autos auch stehen, beispielsweise bei dem im Lexikon gleich darüber erwähnten VW-Bus und dem unter dem Golf beschriebenen VW Käfer (von dem es noch etliche Exemplare gibt, die jünger als 30 Jahre sind und die somit noch keine Oldtimerzulassung bekommen). Hier wäre eine etwas sorgfältigere Überarbeitung durch die Redaktion wünschenswert gewesen.

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Doch alles in allem machen die Inhalte einen soliden aussagekräftigen Eindruck, an den Illustrationen gibt es ebenfalls nichts auszusetzen, insgesamt vermittelt Wikipedia als gedrucktes Buch eine hochwertige Anmutung. Doch eine wichtige Frage, vielleicht sogar die für den Verkaufserfolg wichtigste Frage bleibt unbeantwortet: Wer soll dieses Buch eigentlich kaufen? Die Zielgruppe für das Wikipedia-Lexikon in einem Buch ist uns nicht ersichtlich. Wer es möglichst ausführlich und auf Papier gedruckt haben will, der greift zur Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. Wer dagegen, wie vermutlich die Masse der Wissbegierigen, besonderen Wert auf Aktualität legt und trotzdem auch gerne ausführlichere Texte lesen möchte, geht eben auf die Online-Ausgabe von Wikipedia. Für das gedruckte Wikipedia-Lexikon in einem Band bleibt angesichts seiner kurzen Texte und des damit nur relativ knappen Informationsgehalts, der obendrein wie alles Gedruckte der Gefahr unterliegt, dass die Fakten bald veraltert sind, nur eine ungewisse Zukunft, wie uns scheint.
Am ehesten könnte diese Sonderform eines Lexikons für Sozial- und Gesellschaftswissenschafter sowie Zeithistoriker interessant zu sein, die aktuelle Wissensströme untersuchen und erforschen möchte, was die Menschen aktuell bewegt. Doch vielleicht verhilft ja die durchaus beeindruckende Kombination aus einer starken Internet-Marke (Wikipedia) und einem erfahrenen und bestens ausgebauten Vertriebsweg (Bertelsmann-Lexikon-Verlag) dem Wikipedia-Lexikon doch zu einem Verkaufserfolg. Und vielleicht kaufen ja bekennende Vertreter der Web-2.0-Generation das Wikipedia-Buch quasi als Identifizierungsmerkmal für ihresgleichen und als Manifestation ihrer Lebensgestaltung?
Skepsis am Erfolg ist allerdings angebracht. Bereits zwei Mal scheiterte in der Vergangenheit der Versuch, das geballte digitale Wissen der deutschsprachigen Wikipedia in Buchform zu fassen. Einmal sollte Wikipedia als 100-bändige Printausgabe erscheinen . Doch bereits im Vorfeld gab es zu wenig Vorbestellungen und obendrein Differenzen zwischen den Autoren, das Vorhaben scheiterte. Außerdem plante man Auszüge aus Wikipedia als themenspezifische Wikipress-Bücher zu verkaufen, einige Exemplare sind dann tatsächlich erschienen, doch letztendlich scheiterte auch dieses Projekt an der mangelnden Resonanz der potenziellen Käuferschaft. Der Bertelsmann-Lexikon-Verlag geht also durchaus ein Risiko ein, wenn er das Wikipedia-Lexikon in einem Band jetzt auf den Markt bringt.
Lobenswert: Der Wissen Media Verlag spendet 20.000 Euro an den Verein Wikimedia Deutschland e.V.